Die Berliner Kreativrepublik: Ein europäischer Paradigmenwechsel
Vorwort – Ein Psychogramm
Die Berliner Republik: Gut entwickelt aber depressiv
Nähern wir uns einmal wohlwollend unserem europäischen deutschen Gemeinwesen, unserer kollektiven Persönlichkeit: Nach der Auflösung der bipolaren Nachkriegsordnung und der Verdampfung der bolschewistischen Dogmatik zeigt sich Deutschland im Jahr 17 nach Gorbatschoff wie seine wohlgenährten und mit allem was sie wollten aufgewachsenen Teenager. Unfähig, sich in dem reichhaltigen Angebot an bunten Sachen zu entscheiden, die ihm entgegengestreckt werden, trotz leichtem Speckansatz noch ganz sportlich wenn nicht gar durchaus siegesbereit, aber leider etwas zu verwöhnt, um wirklich Ambition zu entwickeln. Und mit einer fatalen Neigung zur larmoyanten Melancholie, der Depression mit Lustgewinn.
Abgesehen von der Tatsache, dass mit der deutschen Einheit die Hypothek des Marshall-Plans erst wirklich eingelöst werden musste und Deutschland das einzige Land in Europa ist, das sich einen unreparierten Kriegsschaden als Hauptstadt aufgebürdet hat, profitieren wir in einem gewaltigen Ausmaß von dem Vorsprung an infrastruktureller Organisiertheit und kollektiver Organisation, die nur unter den Bedingungen einer industriegestützten Diktatur gedeihen konnte. (Die Weimarer Republik war ja im Grunde nur ein historisches Intermezzo). Der so durchaus gediegene gesamtgesellschaftliche Wohlstand ist trotz des lautstarken Jammerns auf hohem Niveau so tragfähig, dass wir uns eine der offensten Gesellschaften in dieser Welt leisten können. Wir können es uns offensichtlich immerhin auch leisten, 30% der erwerbsfähigen Menschen ohne lohnabhängige Beschäftigung am Wohlstand teilhaben zu lassen, soweit, dass sie es offensichtlich nicht nötig haben, soziale Transferleistungen in Anspruch zu nehmen oder es nicht wollen, weil sie dann ihren eigentlichen Beruf nicht mehr ausüben dürfen. Lohnarbeit ist ja nur für ca. 50% der Menschen in Deutschland zu haben und nur 20% nehmen die staatlichen Hilfen in Anspruch.
Niemand weiß wirklich, was die 30% im Einzelnen wirklich tun, erste Forschungen zeigen, dass sie in Punkto Produktivität nicht untätig sind, sondern durchaus arbeiten. Ein Großteil leistet „gesellschaftlich notwendige“ Arbeit, ohne in die großen ökonomischen Sozialsysteme eingebunden zu sein. Den weitaus größten Teil nimmt die Familienarbeit ein, oft einhergehend mit sozialen und kulturellen Engagements. Die Wertschöpfung geschieht in übertragener Form, scheinbar außerhalb der Geldumsätze, aber ohne diese Arbeit könnten diese Umsätze oft nicht geschehen. Volkswirtschaftlich müssen diese Grundlagentätigkeiten dringend in die Rechnung aufgenommen werden, auch um eine dringend notwendige Reform der großen Solidarsysteme nicht allein in deren Abschaffung zu finden, sondern, um sie auf einer neuen Grundlage neu aufzubauen. Nicht vergessen: Die gesamtgesellschaftliche Produktivität ist seit Kriegsende kontinuierlich gestiegen. Nur, die Gewinne daraus werden in immer kleineren Kreisen umverteilt.
Vergleichsweise besser haben es diejenigen, die sich mit Hilfe von Honorartätigkeiten durchschlagen, die meisten in gestaltenden, kreativen Berufen, im Medienzeitalter eine stetig wachsende Gruppe. Sie sind wenigstens im Geldverkehr eingebunden, aber von der Lebensrealitäten her ist die Schnittmenge mit den oben beschriebenen Gruppen groß, weil die Erträge oft nicht für das Existenzminimum ausreichen und nur ökonomische und soziale Subsysteme wie die Familie und der Freundeskreis das Überleben ermöglichen. Die Kombination mit der Inanspruchnahme von Sozialtransfers wird oft nicht wahrgenommen, obwohl ein Rechtsanspruch besteht, weil die Bürokratie eine zu große Hürde bildet und weil das Stigma der „Stütze“ zu sehr belastet.
Dass sich die sozialen Solidarsysteme nicht mehr rechnen, ist also logischerweise nicht eine Frage von kollektiver Armut, sondern eine Folge von Desorganisation. Organisation geht nicht ohne Kommunikation. Unter dem Blickwinkel eines zum möglichst gerechten Wohle aller optimal organisierten Gemeinwesens ist nun offensichtlich zu analysieren, ob eine Kommunikationsstörung vorliegt, also ein Mangel an Kommunikation, oder ob sich Systeme von Parallelkommunikation herausgebildet haben, die sich dieser Organisation bewusst entziehen, um ihr eigenes profitliches Süppchen zu kochen.
Sicher führt es uns unter emanzipatorischen Geschichtspunkten nicht weiter, die Freiheiten einzuschränken, die dies ermöglichen aber es ist zur Sicherung des Status Quo an Gemeinwohl und zur Sicherung der Demokratie unbedingt nötig, konsequent den Leitgedanken der Teilhabe zu verfolgen. Gelingt dies nur unzureichend, ist das Fortschreiten der Desorganisation zwangsläufig. Die Folge ist das Auseinanderdriften der sozialen Lager, der Anstieg der Kriminalität und damit des Sicherheitsbedarfs als Bedrohung der Freiheit aller, trotz allen Wohlstands.
Die Gedanken dieser Arbeit drehen sich um die „Kreativberufe“, durchaus exemplarisch, spannend vor allem, weil sich in diesem betrachterischen Feld auffällig viele Begrifflichkeiten als sehr relativ erweisen und sich bei jedem Gedankenschritt neue Ansatzpunkte für konzeptionelles Entwickeln finden. Selbst, dass sich das Angebot im Grundsatz nach der Nachfrage richtet, erscheint nicht mehr als unumstößlich. Einmal mehr zeigt sich als Falle, Kultur und Wirtschaft politisch zu trennen und – noch mehr gar – Kulturförderung als Sparpotential einzustufen.
Am Beispiel wird mehr als klar, dass gleich eine ganze Reihe von Paradigmen unserer gesellschaftlichen Organisation nicht mehr gelten, weil sich das Grundthema Information völlig gedreht hat: Jeder kann sich maßgebliches Wissen jederzeit und überall unkompliziert beschaffen und Inhalte überall und gezielt platzieren. Die Folgen sind bereits eingetreten, wir sind schon mittendrin, aber strukturiert wahrgenommen haben wir sie bisher nicht einmal ansatzweise. Dies ist so ein Versuch.
Teil I: Der Strukturwandel als Neurose der offenen Gesellschaft
Paradigma 1: Die Industriegesellschaft
In der Diskussion mit den Wirtschaftsforschern stößt man mitunter auf erbitterten Widerstand, wenn man behauptet, dass man unser organisiertes Gemeinwesen nicht mehr als Industriegesellschaft bezeichnen kann. Ausgangspunkt aller wirtschaftlichen Geschehnisse sei doch das produzierende Gewerbe, das Staubsauger und Kühlschränke herstellt. Fraglich bleibt indes, was die Produktionsweise betrachterisch durch zu einer industriellen macht. In den meisten Fällen zeichnet sich Industrie durch ein hohes Maß an Organisation, Struktur, Rationalität und Automation aus. Sicher spielt auch die Größe der Gruppierungen, die organisiert, strukturiert, rationalisiert und automatisiert produzieren eine große Rolle, um die Bezeichnung Industrie auf sich zu ziehen. Mit dem Begriff Industriegesellschaft assoziieren wir Metropolis, wie Heere von Arbeitern in die Fabriken einrücken, im Ölgeruch der Maschinen schwitzend und schuftend Konsumgüter herstellen. 50% der arbeitenden Bevölkerung tun dies in Kohlengruben, Eisenerzminen, Stahlwerken und Autofabriken.
Machen wir uns nichts vor. In Europa ist das vorbei. Richtig: Operierten wir in national abgegrenzten Feldern, wäre das sicher so, dass der Rest der Gesellschaft auch nichts tun hätte, wenn nicht das produzierende Gewerbe handelbare Waren lieferte. Volkswirtschaftliche Betrachtung bleibt bei schrankenlosem Welthandel im nationalen Feld ohne Erkenntnisgewinn. Noch einmal zurück zur Begriffsdefinition: Eine Bezeichnung soll den Charakter des bezeichneten Gegenstandes vermitteln. Vor diesem Hintergrund bleibt die Frage berechtigt: Kann man uns noch als Industriegesellschaft bezeichnen?
Wohl verstanden: Das Ziel dieser Arbeit ist nicht in aller wissenschaftlichen Seriosität Phänomene möglichst präzise zu beschreiben, sondern es soll möglichst pointiert und mit durchschlagender Kraft ein Trend beschrieben werden der für uns alle von höchster maßgeblicher Bedeutung ist. Bewusst haben wir den Standort Berlin zum Gegenstand der Betrachtung gemacht, weil die Stadt ein Modellfall ist, in dem Entwicklungen sozusagen im Zeitraffer abgelaufen sind und immer noch ablaufen, vor denen kein europäischer Ballungsraum, keine europäische Metropole sicher ist.
Gehen wir zurück in die Geschichte: Berlin war einmal die Stadt mit den meisten industriellen Arbeitsplätzen pro Kopf der Bevölkerung. Hier wurden die klangvollsten Namen der Deutschen Schwer- und Elektroindustrie begründet. AEG, Siemens, Osram, Borsig und einige mehr. Die Nachkriegsordnung zerriss jedoch das geopolitische Netz. Der Viermächtestatus doktorte noch etwas an den Symptomen herum, aber im Grunde war West-Berlin wirtschaftlich eine grell geschminkte Leiche, die nach dem Mauerfall auch rasant in den Verwesungs- prozess eintrat.
Ein hochinteressantes Phänomen in diesem Zusammenhang ist, dass diese beispiellose Strukturimplosion die Menschen nicht massenhaft vertreibt, sondern das Berlin im Gegensatz zu dem weiteren Gebiet darum herum nicht nennenswert weiter schrumpft. Und das, obwohl das Phänomen der schrumpfenden Städte für die Raumordner und Stadtplaner schon lange allgemein gültig ist.
Wenn nun also der Anteil des industriell erzeugten Bruttoinlandsproduktes an einem Standort von 60% auf 11% (Tendenz sinkend, Creative Industries auch 11%, steigend) zurückgeht, kann man nicht mehr von einer Industriegesellschaft im eigentlichen Sinne sprechen, weil damit der Charakter dieses Standorts kaum mehr treffend beschrieben wäre. Es ist also in Bezug auf das Charakterbild ein Paradigmenwechsel eingetreten und es verstärkt sich der Verdacht, dass er auch die Grundstrukturen betrifft. Unsere Prägung entspricht nicht mehr der Industriegesellschaft, sondern der Informationsgesellschaft, zum einen, weil die Ware Information (Medien, Werbung) in unserem Alltagsleben wesentlich präsenter ist als die produzierende Erwerbsarbeit und, zum anderen, weil selbst die industriell produzierte dingliche Welt mehr durch ihre edlen äusseren Eigenschaften (Design) hervorsticht als durch Qualität.
Paradigma 2: Die Dinglichkeit der Ware
Eine weitere Berliner Wirtschaftszahl kann durchaus als phänomenal bezeichnet werden: Das Bruttoinlandsprodukt der „Kulturwirtschaft“ ist mit 11% genauso hoch wie das im produzierenden Gewerbe. Schon rein statistisch ist also der Handel mit der Ware Information , die gewerbliche Kommunikation, gleich ob verbal, gestisch, musikalisch oder bildnerisch vermittelt, wirtschaftspolitisch gleichauf mit der Produktion der dinglichen Warenwelt.
Es ist sicher richtig, dass sich ein Großteil der gehandelten Informationen auf in der produzierenden Industrie gefertigte Waren bezieht, aber der Proporz der damit erzeugten Umsätze zeigt, dass das Gewicht der rein mechanischen Qualität einer Ware zu Gunsten der Qualität der Beschreibung in Bezug auf den Warenwert abnimmt. Klartext: Mit besserer Werbung verkauft sich das schlechtere Produkt besser als das bessere.
Ein Großteil der in der Kulturwirtschaft erzielten Umsätze ist auf Inhalte bezogen, die in der klassischen Anschauung im Bereich der reinen „Kultur“ anzusiedeln sind. Dies zeigen auch die empirisch ermittelten Gewichte unter den Verwertungsketten der Kulturwirtschaft. Ein großer Teil der Akteure arbeitet für den klassischen Kulturbetrieb als Zulieferer für die Bühnen, textet für Film und Fernsehen oder arbeitet bildnerisch für das explodierende Ausstellungswesen zeitgenössischer Kunst. In diesem Bereich wird also keine „Dienstleistung“ am dinglichen Produkt betrieben, sondern es werden „Primärprodukte“ kreativ geschöpft.
Schon 2001 fand das „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung“ in der Studie „Kultur als Wirtschaftsfaktor“ heraus, dass im Bereich der „Kultur“ das Angebot Nachfrage generiert, das Umgekehrte ist gemeinhin als Axiom der Wirtschaftswelt bekannt. Verfolgt man die These aus dem Blickwinkel der „Kultur“ hinein in die kommerziellen Bereiche der Kulturwirtschaft, so stellt man fest, dass man damit eigentlich gehörig weit kommt, betrachten wir zum Beispiel das Merchandising von Schreibwaren über grafische Gestaltung (Diddl-Mäuse). So mancher Betrieb leistet sich auch eine aufwändige Internet-Seite, obwohl der umsatzgenerierende Nutzwert in Frage steht. Es gibt sicher noch einige Beispiele mehr.
Es ist also deutlich, daß erhebliche Umsätze unabhängig von den industriellen, dinglichen Welten erzielt werden. Die Warenwelt des Geistes entwickelt sich mehr und mehr zu einem Hort der Produktion im eigentlichen Sinne. Standortpolitisch lohnt es sich also kaum, an der klassischen Begrifflichkeit von Produktion und Dienstleistung festzuhalten, wenn ein so großer Teil des Wirtschaftsgeschehens Umsätze mit rein geistig entstandenen Gegenständen zeitigt.
Paradigma 3 : Das Marktrecht der Städte
Ein wichtiges Thema des Strukturwandels ist sicher das Phänomen der schrumpfenden Städte. Sie haben sich immer über ihre gesellschaftspolitische und ökonomischen Funktion definiert. Mit der zunehmenden Arbeitsteilungen der menschlichen Gesellschaft, der rasanten Entwicklung des Handels und des Verkehrsgeschehens bildeten sie sich zunächst an den geographisch definierten Knotenpunkten, später aber auch nach der Kulmination der ökonomischen Philosophie, wie zum Beispiel Berlin. Hier zog ein leuchtender Standort des Strukturalismus in einer einigermaßen destrukturierten Welt Intelligenz und Ökonomie an einem Punkt zusammen, um einen wichtigen Industriestandort zu begründen, obwohl die geopolitische Lage vergleichsweise nicht besonders ist. Aber vielleicht wurde gerade deshalb hier der Computer erfunden.
Mit der zunehmenden Maschinenkommunikation braucht man keine geographisch definierten Marktplätze mehr, so scheint es und mit der Zunahme der Lagerhaltung auf Schiene und Straße hat sich als ungünstig erwiesen, Produktionsstandorte im engeren Kontext der Städte anzusiedeln. Es kostet schlicht zu viel Zeit, mit 40 t durch die Innenstadtstraßen zu fahren. Das Beispiel München zeigt, dass selbst die Funktion der Schlafstadt oft keinen Raum mehr findet. Die Arbeiter von BMW können sich schlicht die Mieten in der Stadt nicht leisten und werden mittels eines betriebseigenen Nahverkehrssystems aus den Dörfern und Kleinstädten Oberbayerns ist zusammengeholt.
Selbst das Marktrecht als klassische Stadtfunktion wird in vielen Fällen peripher verlagert. Aus Mangel an innerstädtischer Fläche für derlei Großprojekte werden die Konsumtempel der Neuzeit, die Kettenfilialsilos in die Speckgürtel gepflanzt. Neben der Sortierung der Stadtquartiere nach sozialen und ethnischen Gegebenheiten sortiert sich die Stadt auch nach ökonomischen Funktionen. Der kleinteilige Einzelhandel leidet zum einen an der von den Shoppingmalls abgeschöpften Nachfrage und zum anderen an der großen Trägheit des Immobilienmarktes, der nicht in der Lage ist, zeitnah durch Preissenkungen auf Marktgegebenheiten zu reagieren. Die setzt einen negativen Domino-Effekt in Gang, der nicht unterschätzt werden darf. Ganze Straßenzüge leer stehender Läden prägen das Stadtbild negativ im Sinne einer kollektiven Depression.
Manchmal eher romantisch muten die ehemaligen industriellen Produktionsstätten, größtenteils leerstehend oder halbherzig mit „Factory-outlets“, handwerklichen Klein- und Mittelbetrieben oder mittlerweile auch mit Kunst und Kultur (eher widerwillig) zur Nachnutzung gebracht. Die staatlichen Wächter über die städtische industrielle Wirtschaft halten sie in „vorhaltebereiche“, in denen keine andere Planung zulässig ist als Industrieansiedlung, völlig ignorant gegenüber dem Anachronismus des Unwiederbringlichen. Wohlgemerkt, die Stätten der Industriekultur sind in Berlin reiche Baudenkmäler, ehrwürdige Brachen und eigentlich Raumressourcen von unschätzbaren Wert: Das wissen wir nur noch nicht zu würdigen. Und es ist beileibe kein Sonderfall mehr. Selbst „gesunde“ Wirtschaftsräume wie München haben einen gehörigen Speckansatz an Gewerbeleerstand. Dort sind es auch schon über 2 Millionen m².
In Berlin kann man seit dem sparpolitikbedingten Rückzug des Gemeinwesens aus der Stadtgestaltung obendrein eine sich frei entwickelnde Seggregation verfolgen. Während einige Stadtgebiete (selbst in den planerisch definierten Gewerbearealen) deutliche Merkmale der Destrukturierung zeigen, Läden, Gewerbeflächen und Wohnungen leer stehen, finden andere Quartiere deutlich Zuzug insbesondere von jungen Akademikerfamilien, füllen sich die Gewerbeetagen und sogar die kleinen Ladengeschäfte. In diesen Vierteln eine Wohnung zu suchen ist oft aussichtslos, beziehungsweise sie sind unbezahlbar teuer.
Die zunehmende Dysfunktion der urbanen Lebensräume beschwört eine große gesellschaftspolitische Gefahr herauf: Es stellt sich die Frage, ob sie noch in der Lage sind, die Funktion der gesellschaftspolitischen Retorte wahrzunehmen, die Orte der ökonomischen und technischen Innovation zu sein. Es besteht die Gefahr, dass Hirn, Herz und Hand des gesellschaftlichen Organismus zunehmend die Verbindung zueinander verlieren.
Update: 8 Jahre später- die wachsende Stadt
Oben Geschriebenes entstand im Jahre 2008. Heute schreiben wir 2014. Tatsächlich hat sich das Geschehen vor ungefähr 5 Jahren gedreht, was die Städte betrifft. Sie sind, in Koinzidenz des Wandels des Kreativen vom nixnutzigen Boheme zur hoffnungstragenden Lichtgestalt, Richard Florida sei Dank, zum Magneten für genau diese Spezies geworden. Selbst im hochzivilisierten Mitteleuropa hat eine grassierende Flucht aus den Klein- und Mittelstädten und vom Lande weg in die großen Kulturmetropolen eingesetzt. Dies hat zum Beispiel Berlin eine jährliches Bevölkerungswachstum von ca. 14000 Menschen beschert, von dem die Fachleute ausgehen, dass es bis mindestens 2030 stetig bleibt. Untersuchungen haben ergeben dass die Zuwanderer überwiegend zwischen 25 und 35 Jahre alt sind. Zu vermuten ist, dass es sich schwerpunktmäßig um die Spezies Mensch handelt, um die es sich in dieser Abhandlung dreht. Die Folgen sind gravierend und beschäftigen die Politik in erheblichem Ausmaß, aber die Möglichkeiten der Einflussnahme sind gering bzw. werden nur zögerlich genutzt. Der erhebliche Anstieg der Wohnungsmieten, die Verknappung von Wohnraum am Mietwohnungsmarkt durch rasanten Anstieg der Umwandlung in Eigentumswohnungen und die Zweckentfremdung als Ferienwohnungen für den auch rasant zunehmenden Städtereisen-Tourismus setzt der Stadtgesellschaft gehörig zu.
Und wieder sind die Leistungsträger der Kreativindustrie betroffen. Bei Neuvermietung sind die Wohnungen im ganzen Stadtgebiet kaum unter 11 €/m² warm zu haben, auch ausserhalb des S-Bahnrings. Es ergibt also einen deutlichen Trend, kleinere Wohnungen zu mieten und dies schafft wiederum einen erhebliche Nachfragezuwachs an kleinteilig verfügbaren Gewerbeflächen.
Der Markt beginnt langsam aber sicher zu reagieren. Es bilden sich Trägerorganisationen und Selbsthilfestrukturen in großer Zahl, die kleinteilig verfügbare Flächen genereiren. Die Selbsthilfestrukturen manifestieren sich in sogenannten Coworking-Spaces, meistens Ladenlokale, die sich mehrere Akteure teilen. Es entstanden baer auch professionelle Strukturen, wie zum Beispiel ein Raum des Cafehausbesitzers Stefan Oberholz, der es leid war, dass sein Cafe tagein Tagaus von Laptop-Arbeiterinnnen besetzt war, die sehr viel dort in seinem WLAN weltweit kommunizierten, aber sehr geringe Verzehr-Umsätze generierten. Zur Entlastung eröffnete er um die Ecke einen speziellen Arbeitsraum.
Paradigma 4: Lohnarbeitsbezogene Sozialsysteme
Es ist ebenso ein Phänomen der sozialen Kommunikation wie auch ein ökonomisches: in einigen Wirtschaftsbereichen und ausgerechnet auch in denen, für die noch deutliches Wachstum zu konstatieren ist, werden formelle Strukturen, Firmenkonstrukte als Organe der verfassten Arbeitswelt überflüssig. Mehr noch: In manchen Bereichen sind sie quasi Dinosaurier auf der Suche nach Nahrung. In den Kernbereichen der Maschinenkommunikation, im IT- und Internetsektor hat man sie gerade in Berlin zu Hunderten sterben sehen.
Nicht dass kein Markt und keine Nachfrage da gewesen wäre, die über E-Mail und Internet vernetzte Kundschaft hat quasi zum halben Preis die gleiche Leistung von Freiberuflern bekommen. Auf dem Hintergrund der modernen Kommunikationstechnologien brachten die Firmenkonstrukte keine Vorteile, im Gegenteil, es wurden unnötige Overhead-Kosten produziert.
Das selbe Phänomen kann für fast alle Branchen der Kreativwirtschaft gelten. Das Ausmaß der Destrukturierung ist wirtschaftswissenschaftlich kaum zu fassen. So gehen auch die Schätzungen des Proporzes zwischen formellen und informellen Marktstrukturen weit auseinander: Sie liegen zwischen eins zu eins und eins zu fünf. Ein Highlight aus einer Wirtschaftsstudie gibt Anlass zu Ahnungen. Eine einzige mittlere Werbeagentur aus Berlin Prenzlauer-Berg verfügt über eine Datenbank von 7000 Freiberuflern als potentielle Zulieferer und Projektbeteiligte.
Das Problem der Empiriker besteht darin, dass die meisten kreativen Freiberufler ohne Gewerbeanmeldungen agieren und das Ausmaß der Ausbeutung bereits so groß ist, dass z. B. ein Großteil der in Berlin von der Künstlersozialkasse registrierten 21.000 Akteure im Kleingewerbebereich agieren, also nicht einmal umsatzsteuerpflichtig sind. So ist ein Großteil des kreativwirtschaftlichen Geschehens statistisch nicht existent. Die ermittelten immerhin trotzdem positiven Wachstumszahlen sind entsprechend unpräzise.
Während die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung tobt, ob sich die industrielle Produktion unserer teueren sozialen Sicherungssysteme im globalen Wettbewerb noch leisten kann, hat sich ein wesentlicher ökonomischer und gesellschaftlicher Innovationsbereich offensichtlich aus dieser Struktur verabschiedet. Die Künstlersozialkasse ist kaum mehr als ein Pflästerchen auf diese Wunde und politisch offensichtlich mehr als prekär, obwohl oder gerade weil die Versichertenzahl explodiert.
Das Geschehen ist gesellschaftspolitisch sensibel: Die Akteure der Kreativwirtschaft sind akademisch hoch gebildete Mitglieder der geistigen Elite und wesentliche Protagonisten der kulturellen Leistungskraft. Ihre Arbeit ist maßgeblich für die Leitbilder von Produktlinien, für die Gestaltung von Ikonen der Industriekultur für die im Wirtschaftsleben essenzielle Identitätsbildung, das Branding und Profiling. Gerade der Bereich der freien bildenden Kunst wird in seiner Funktion der Schaffung der bildsemiotischen Grundmuster in der unsere gesellschaftliche Kommunikation dominierenden Bilderwelt bei weitem unterschätzt und deshalb ökonomisch sträflich mies behandelt. Auch hier liefert Berlin wieder ein negatives Highlight: Die Etats der staatlichen Kunsthallen und Museen für Einkäufe an zeitgenössischer Kunst sind praktisch auf Null zusammen gekürzt worden. Hier hat sich das demokratisch organisierte Gemeinwesen von einer Jahrtausende alten Tradition verabschiedet: Der Wahrung des kulturellen Erbes. Das Ausmaß der Katastrophe wird deutlich, wenn wir später in dieser Abhandlung die Position Europas im globalen Wettbewerb beleuchten.
Mit der Überkommenheit der Firmenstrukturen geht aber auch ein wesentliches Element der Qualitätssicherung über Bord: Die soziale Kontrolle, die gegenseitige soziale Überwachung, die durchaus auch im positiven Sinne diszipliniert. Sie sorgt dafür, dass wir morgens einigermaßen pünktlich am Arbeitsplatz erscheinen und dass unser Leben Rituale und Rythmen enthält. Das Regelmaß sorgt für den psychischen Ausgleich, die Leistungsfähigkeit in relativer Unabhängigkeit von den Unwägbarkeiten des privaten Daseins.
Auf all dies können Freiberufler in der Regel nicht zurückgreifen. Sie müssen sich selbst disziplinieren, ein durchaus nicht leichtes Unterfangen.
Paradigma 5: Das demokratisch organisierte Gemeinwesen
Unbestreitbar: Die alte europäische Union in Deutschland als eines ihrer Kerngebiete sicher eine der im eigentlichen Sinne demokratischen Staatengebilde, eine gereifte Struktur zur Organisation wirklich offener Gesellschaften. Wohlverstanden, im globalen Vergleichsmaßstab. Ein derart großes Maß an bürgerlicher Freiheit und Selbstbestimmung gibt es nirgends anderswo. Verglichen mit den USA sichert in Europa der aktive Interessenausgleich zwischen Kapitalverwertungsinteressen und Gemeinwohl auch eine relativer Freiheit vor den strukturellen Zwängen eines unmoderierte Marktgeschehens. Unter dem Primat der Märkte ist nur wer Geld hat wirklich frei.
Doch, ist nicht auch das Prinzip des sozialen Ausgleichs ein gefährdetes, schützenswertes Kulturgut? Wenn Politikverdrossenheit ein allgemein anerkanntes Phänomen ist und wie in Polen jüngst geschehen nur noch 50% der Wahlberechtigten zu den Urnen gehen, wenn die maßgeblichen gesellschaftlichen Gruppen in den Parlamenten nicht mehr repräsentiert sind (Sie bestehen bekanntermaßen zu 50% aus Lehrern zu 25% aus anderen Beamten und zu 25% aus politisch organisierten Arbeitslosen), wenn sich die proletarische Klasse immer noch national begreift, der Widerpart aber längst international firmiert, dann kann man eigentlich nur noch konstatieren, dass die national organisierte parlamentarische Demokratie nur noch ein theoretisches Gebilde ist, dass aber tatsächlich gesellschaftlich relevante Entscheidungen in ganz anderen Strukturen getroffen werden.
Logischerweise hat diese Entwicklung ernste wirtschaftspolitische Folgen: Eine arbeitsteilige Gesellschaft kann nur erfolgreich sein, wenn sie durchlebte Kommunikationsstrukturen hat. In Rollenverständnis müssen die Akteure die Möglichkeit haben, sich wirklich aufeinander zu beziehen. In der Produktion kann Qualität nur wirklich gesichert werden, wenn auch das kleinste Rädchen im Getriebe sich mit den Unternehmenszielen identifizieren kann. Die Arbeitnehmer können lang von ihrer Regierung mehr Arbeitsplätze fordern, wenn die, die sie ja dann auch schaffen sollen, mit dieser Regierung überhaupt nichts mehr zu tun haben.
Das Internet, die Lebensader der Creative Industries in ihrer aktuellen Form, kann als Menetekel dieses Zustandes gewertet werden. Einige nationale Regierungen versuchen, auch hier Zensur obwalten zu lassen aber niemals mit hundertprozentigem Erfolg. Die Amerikaner beherrschen es durch Wirtschaftsmacht, aber erfunden wurde es in Europa, im Kernforschungszentrum CERN in Genf.
Eine weitere Folge der allgemeinen Dissoziation, des informellen Auseinanderdriftens der sozialen Lager ist die zunehmende Energie der Arroganz der Macht. Wohlgemerkt Arroganz im eigentlichen Sinne: Unfähigkeit gepaart mit Überheblichkeit, und zwar in einem zentralen Handlungsfeld, der nachhaltigen Strukturpolitik. Natürlich erzeugt der allgemeine Niedergang Angst. Sie erfasst sogar die wirtschaftlichen Machtcliquen, obwohl das Wachstum für ihre Mitglieder ungebrochen ist. Die Produktivität des eingesetzten Kapitals ist ja unaufhörlich gestiegen, aber da ja die Mehrheit der Bevölkerung von der Umverteilungsorgie nach oben negativ betroffen ist, sind die einstigen Mediatoren der Gesellschaft, die Politiker, die sich ja bekanntlich nach der Mehrheit richten müssen, in die Psychologie der Negativspirale hineingezogen. Das blockiert ihre Kreativität und verhindert integrierendes Handeln, ein fatales Defizit, denn die Fähigkeit zur Integration ist ein europäischer Standortfaktor.
Sie sind gekennzeichnet durch den starren Blick nach oben, wo die Geldsäcke hängen und bemüht, das bischen Steuergeld, über das sie noch verfügen, auch noch dazuzuhängen. Der schnelle Erfolg besteht darin, dass das Licht des geneigten beschenkten Investors am folgenden Tag vor den Pressekameras auf sie strahlt, ein schneller, aber flüchtiger Erfolg. Wenn die großzügig geförderte Industrieanlage schon 2 Monate vor dem Ende der Bindungszeit abmontiert wird und pünktlich am ersten Tag der Freiheit ins nächste Billiglohnland deportiert wird leuchten die Fernsehscheinwerfer ja schon ganz wo anders hin.
Die Wirkung nachhaltiger Strukturpolitik entsteht ja leider erst zeitlich versetzt, da sie ja Freiräume für Kreativität eröffnet und neue Akteure auf den Plan ruft, die erst einmal klein anfangen müssen, setzt der sichtbare Erfolg unter Umständen erst ein, wenn der politische Gegner an der Macht ist, der dann davon profitiert. Das muß verhindert werden.
Paradigma 6: Der verlorene Charme der Kollektivität
Wirkliche Macht entsteht durch Kooperation und Koordination. Gefestigt wird sie durch Strukturen, durch Organisationen, in denen mit fest gefügten Identifikation von Rollen ritualisierte Abläufe abgespult werden. Hegemonie wäre unvorstellbar, würden sich nicht in kollektiven Prozessen Persönlichkeiten aufeinander beziehen: Kein Herrscher ohne Beherrschte, keine Feldherren ohne Armee.
Die moderne Industrie und ihre Produktivität wären ohne das fordistsche Ideal der Fließbandproduktion undenkbar, eine reibungslose Ablauf, indem jedes Rädchen im Getriebe fast hirnlos funktioniert, in einen rituellen Arbeitsprozess hinein sozialisiert ohne jede Notwendigkeit, die eigene Funktion zu hinterfragen oder sich jeden Tag erneut die Funktionsweise des großen Ganzen hinein zu finden.
Der nach der Auflösung der bipolaren Weltordnung immer gnadenloser werdende Wettbewerb gerade in den kreativen Branchen hat paradoxerweise zur Folge, dass der Markt die Produkte formal organisierter Kollektivität nicht mehr annimmt. Die Wirtschaftsentwicklung in den IT-Branchen gerade in Berlin hat dies deutlich vor Augen geführt: Im Hype des „neuen Marktes“ wurden komplexe Firmengebilde für Internet Dienstleistungen gegründet, Millionen wurden in mögliche Standorte investiert, doch die Firmen gingen so schnell wieder pleite oder wurden wieder so radikal eingeschrumpft, dass die Bauplanungen gar nicht so schnell wieder gestoppt werden konnten. Es wurden so Tausende von Quadratmetern Lehrstand errichtet.
Die Nachfrage nach IT- Dienstleistungen blieb durchaus konstant , wächst sogar, wie die Statistiken zeigen, aber die Kunden hatten sich längst darauf eingestellt, dass die Produkte von freiberuflichen Heimarbeitern, durch Einsparung von Miete und Sozialkosten zum halben Preis in kaum schlechterer Qualität zu haben sind. Internet und E-Mail erschließen den Marktplatz der Möglichkeiten.
Offen bleibt jedoch die Frage, ob diese Entwicklung im Sinne einer nachhaltigen Qualitätssicherung sinnvoll ist. Es hat sie schon oft gezeigt, dass das Primat der billigsten Preise auch billige Produkte im schlechten Sinne bedingt. Es verstärkt sich das ungute Gefühl, dass die gesellschaftliche Isolation der Produzenten, die Entsolidarisierung der Anbieter die Dienstleistungen immer billiger verfügbar macht, aber das ist doch auch immer schwieriger wird, in dem so völlig unübersichtlichen Marktgefüge gute Qualität zu identifizieren.
Die Creative Industries sind ein Paradebeispiel der Destrukturierung des Wirtschaftslebens und der Arbeitswelt. Gerade in einem Wirtschaftsbereich, indem ein- geistige Elite wirkt, werden Nägel zum Sarg der solidarischen Sozialsysteme geschmiedet.
Sicher haben auch Umstrukturierungen in der gesellschaftlichen Kommunikation wie zum Beispiel die Verlagerung des Medienkonsums aus den Printmedien in die audiovisuelle Welt Marktverschiebungen bedingt, so dass Verleger Stein und Bein schwören, dass man sich heute keine fest angestellten Produktioner, Grafiker und Lektoren mehr leisten kann. Ganz zu schweigen von Vorschüssen für die Autoren. Angesichts eines boomenden Zeitschriftenmarktes ist auch hier sicherlich eine differenzierte Micro-Macro Analyse sicher lohnenswert. Auch hier scheint der unternehmerische Erfolg von der Gestaltung einer Produktpalette abhängig zu sein.
Auch im Bereich der Architektur sind feste Anstellungen schon seit Jahren ein Auslaufmodell. Der Bauboom der siebziger, achtziger und neunziger Jahre ließ ganz vergessen, dass es sich auch hier um einen künstlerischen Beruf handelt, der wie alle künstlerischen Berufe extrem von Konjunkturen abhängig ist, mit dem man durch Glück und guten Beziehungen steinreich werden kann, in dem aber auch trotz gediegener Qualität ein Leben in relativer Armut für die Meisten Realität ist.
Paradigma 7: Der Jojoeffekt im Wirtschaftswachstum
Zu den Hochzeiten der antizyklischen Finanzpolitik folgte die Konjunktur sauberen rhythmischen Zyklen. Waren die Erträge im Aktienbereich zu schlecht, konnte man schön deutlich verfolgen, wie das Investment in den Immobilienbereich wanderte. Dort war die Rendite zwar geringer, aber die Erträge schienen sicher und nachhaltig verfügbar. Es herrschte Wohnungsnot. Die staatlichen Subventionen der antizyklischen Finanzpolitik flossen reichlich in den Bau hochmoderner Satellitenstädte. Die Flächensanierung sorgte für den Kahlschlag in der Altbausubstanz und schaffte innerstädtische Bauflächen für sündhaft teure Wohnungen, die dann auch noch billig vermietet wurden. Den Rest schöpfte man aus reichlich vorhandenen Subventionen. Die Bevölkerung wuchs und mit ihr der Bedarf an Produktionsflächen für die Gebrauchsgüter. So wurde auch in die Gebrauchsgüterindustrie kräftig investiert, es war aber schon erkennbar, dass die Standorte eher am Rande der Ballungsräume gewählt wurden.
In den achtziger Jahren machte die Automation rasante Fortschritte und mit der Zunahme der Arbeitsteilung in der Weltgesellschaft – Elektronik, Feinmechanik und Kleidung in Asien, Schwerindustrie und Verkehrstechnik in Europa, Agrarproduktion in Amerika, Bodenschätze aus Afrika – fielen in Europa als Ursprungsland der abendländischen Industriekultur ganz wesentliche Aufgabenstellungen weg. Der Arbeitslosigkeit wurde zum nachhaltigen, strukturellen Phänomen.
Der nachlassende Optimismus und die zunehmende Konzentration auf die Geistwelten führten in Europa bereits in den sechziger Jahren und später zunehmend zu sinkenden Geburtenraten, so dass die gleich bleibende Produktion im geförderten Wohnungsbau gleichzeitig Überkapazitäten schuf und gewaltige Schuldenberge für die Kommunen anhäufte. Die Automation führte auch zu veränderten Anforderungen an die Industrieflächen. Produktionsanlagen in Geschossbauweise wurden überflüssig und mit dem zunehmenden Logistikwesen in der Produktion, auch Lagerhaltung auf der Straße genannt, wanderten die Standorte der Arbeit vollends auf die grüne Wiese.
In ganz Europa wurden die Konjunkturschwankungen bei allgemeinen Abwärtstrend immer geringer. Die mit der Automation verbundene verbesserte Fertigungsqualität sorgte für zunehmende Langlebigkeit der Gebrauchsgüter.
Die antizyklische Finanzpolitik hat sich überlebt. Der Immobiliensektor wird in absehbarer Zeit bei Konjunkturschwankungen im Produktionsbereich keinen Trost spenden, wenn keine neuen Nutzungsideen im Raum stehen. Der Rückbau ist zwar bereits Realität und sicher richtig und notwendig, aber es stellt sich die Frage, ob Renaturierung die richtige Antwort auf Strukturwandel ist.
Das Ende der Wachstumsideologie ist offensichtlich gekommen. Selbst wenn in der industriellen Produktion wieder deutliche Zyklen erkennbar wären, wäre im Abwärtstrend das Ausweichen in Strukturinvestitionen nicht mehr möglich, weil das Geld dafür schlicht und einfach nicht mehr da ist. Die Schulden aus der antizyklischen Finanzpolitik der Vergangenheit sind noch lange nicht getilgt.
Paradigma 8: Fördern durch Fordern
Zusätzlich belastet durch die Wiedervereinigung genannten verspäteten Kriegsschäden windet sich speziell die deutsche Politik, leider verhaftet im traditionellen keynesianischen Denken. Das Motto der großen Sozialreform “ Fördern durch Fordern“ kennzeichnet als Paradoxon die Kapitulation.
Man tut einfach so, als ob Arbeit reichlich vorhanden wäre, wenn sie nur schlecht genug bezahlt würde. Wie soll Wachstum entstehen, wenn die Arbeit schlechter bezahlt wird als die Sozialhilfe, abgesehen von dem Umstand, dass die zusätzlichen Gewinne aus dem Wachstum in zusätzliche Automation investiert werden und das verstärkt nicht im Inland sondern im strukturell weniger belasteten Ausland.
Die „Sozialreformen“ waren rein populistische Aktion: In Deutschland und Europa wird die Belastung durch Sozialkosten in der Öffentlichkeit – mehr oder weniger absichtlich – falsch bewertet. Der durchschnittlich hohe gesellschaftliche Wohlstand ist ja durch eine kontinuierliche Binnenkonjunktur auch ein Standortvorteil. Volkswirtschaftlich teuer ist vor allem der geopolitische Strukturwandel. Diese im Standortvergleich hohen Kosten durch Senkung der Realeinkommen – nichts anderes ist ja der Sozialabbau- kompensieren zu wollen heißt also den Teufel mit den Belzebub auszutreiben.
Für die Bewältigung der geopolitischen Belastungen durch den Strukturwandel in der Raumordnung und durch die demographischen Veränderungen findet sich im politischen Raum kein Ansatz; immerhin kann man mit den o. g. Scheinargumenten den Bürgern besser in die Tasche fassen und so die Scheinproduktivität für die investierende Klasse vorerst noch einmal sichern.
Die fatalen Folgen der gesellschaftlichen Desorganisation und Destrukturierung markieren für den Standort Europa eine Abwärtsspirale, die vor allem durch Verteilungskämpfe gekennzeichnet ist. Paneuropäisch national gesehen hat die arbeitende Bevölkerung schlechte Karten, global gesehen kommt die Umverteilung zumindest den Arbeitnehmern in den Schwellenländern zu gute. Scheinbar gut auch für die europäischen und amerikanischen Investoren: Totalitäre Regimes sorgen für nicht zu viel sozialen Ausgleich.
Unter dem Strich ist aber sicher nicht besonders viel rausgekommen: Auf dem Balkan, in Vorderasien und Nordafrika haben kriegerische Konflikte einiges an Kapital vernichtet und in Indien und China macht der wirtschaftliche Aufschwung durch erhöhten Verbrauch die weltweit knappen Energieträger für Alle teurer, was in Produktivität gemessen die geringeren Arbeitskosten durch erhöhte Transportkosten wieder relativiert.
Teil II: Wege aus dem Wahnsinn
- Das Mastermind braucht Therapie
„Mastermind“ ist eine Begriffsfrechheit. Klingt aber gut. Gemeint ist das Kollektive Bewusste. Oder vielmehr das Bewusstsein. Auf jeden Fall aber gibt es in unserer Gesellschaft ein Regelwerk von schriftlich oder auch nicht schriftlich niedergelegten Verhaltensnormen, deren Befolgung sich als mehr oder weniger intelligent erweist. Sie kommen auch mehr oder weniger intelligent zu Stande. In der Geschichte hat sich das Regelwerk in der Folge wirtschaftlich und damit politisch wirksamer Geschehnisse und Abläufe modifiziert. Diese Geschehnisse und Abläufe wurden gemeinhin als Kriege oder Revolutionen bezeichnet. Seit es sich als unvernünftig und teuer herausgestellt hat, Strukturwandel eher auf der Handlungsebene zu bewältigen, verlaufen die Zyklen des Fortschritts leider eher schleppend. Zugegeben, die Geschwindigkeit war zu teuer und die Kollateralschäden sind ethisch nicht zu vertreten.
Andersherum betrachtet: Die technisch mögliche Geschwindigkeit des Informationsaustausches und damit die explodierten Möglichkeiten, das für die Ausübung von Macht nötige Wissen zu erlangen, hat dazu geführt, dass die Machtstrukturen vielfältig geworden sind. Die Gesellschaft strukturiert sich kaum mehr in einem monolithischen politischen Raum, sondern zerlegt sich in mehr oder minder hierarchisch gegliederte Beziehungsgeflechte, deren durchaus auch internationale Stränge das nationale Geschehen in ein anarchisches Licht tauchen.
Festgemacht werden können allerdings Interessengruppen und Bereichsinitiativen, deren Organisationsgrad durch die elektronischen Medien geradezu geboosted ist. Das national orientierte demokratische Gemeinwesen ist im Vergleich ein unkoordinierter Haufen.
Geht man davon aus, dass durchaus ein vernünftiges Interesse besteht, zwischen individuellem Gewinnstreben und Gemeininteressen auszugleichen und dass dies in demokratisch organisierten Strukturen am effizientesten erledigt werden kann, besteht für das demokratisch organisierte Gemeinwesen dringender strukturierender Handlungsbedarf: Es muss in Zukunft konzentriert nach dem Subsidiaritätsprinzip funktionieren: Was ein kleines System leisten kann, darf das Große nicht mehr übernehmen. Um nicht missverstanden zu werden: Es wäre fatal, Makrosysteme zu zerschlagen, ohne die Mikrosysteme geschaffen zu haben.
Gesellschaftliche Ebenen und Felder gibt es genug.
- Handlungsebene quer definiert
Es war geradezu genial, unter der Überschrift „Creative Industries“ die künstlerisch ausgerichtete Branchen und Berufsgruppen betrachterisch zusammen zu fassen und damit auch ein wirtschaftspolitisches Handlungsfeld zu generieren. Mir persönlich ist das zum ersten mal 2008 auf einer europäischen Konferenz in Berlin begegnet, die ich selbst veranstaltete. Wir hatten aus London, Paris, Amsterdam und Antwerpen Expertinnen eingeladen, die sich professionell um die Bereitstellung von bezahlbaren Künstlerateliers bemühen. Der Kollege von der Amsterdamer Stadtverwaltung berichtete von einer aus der kommunalen Administration heraus gesteuerten Entwicklungsstrategie der Infrastruktur für die „creative Industries“, das Amsterdamer Broedplaatsen – Programm. Zu diesem Zeitpunkt waren die Berliner Senatsverwaltungen noch in einem Dornröschenschlaf, kümmerten sich um die Opernreform, was die Kultur betraf und machten Musik- und Medienwirtschaftsstudien, was die Wirtschftsverwaltung betraf, ohne sich der wachsenden Bedeutung des gesamten „creativen“ Feldes bewusst zu werden.
3. Förderphilosophie: Infrastrukturflächen in der wachsenden Stadt sichern!
Von einem Konferenzvortrag des Amsterdamer Kollegen Jaap Schoufour inspiriert, begann ich die ersten Recherchen zum Thema und stellte fest, dass die Stadt Wien sich bereits des Themas angenommen hatte und ausgerechnet eine Forschungsgruppe aus Nordrhein-Westfahlen beauftragt hatte, während man sich in Deutschland nur sehr zögerlich dem Thema zuwandte.
Gemeinsam mit einem Doktoranten am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Marco Mundelius, (heute nicht zuletzt in Folge der Ereignisse zum Statistikchef der Kulturministerkonferenz avanciert), überzeugten wir die damalige Kulturstadträtin von Pankow, nach dem Wiener Vorbild einen Kulturwirtschaftsbericht für den Bezirk zu beauftragen. Die Senatsverwaltung leistete zunächst Wiederstand und versuchte, die Initiative zu blockieren, aber musste dann dem wachsenden politischen Druck nachgeben und stimmte zu, unter der Bedingung, dass sie selbst vor dem Bezirk einen Kulturwirtschaftsbericht für ganz Berlin veröffentlichen konnte. Umso besser!
Flankierend setzten wir eine groß angelegte Studie über die wirtschaftliche Situation der Bildenden Künstlerinnen in Berlin durch, den wir vom BBK gemeinsam mit dem DIW gestalteten, unter anderem über die Wechselwirkungen zwischen der künstlerischen Arbeit und der gewerblichen Kulturwirtschaft.
Es stellte sich schnell heraus, dass die Administration vor der Brisanz der Erkenntnisse zurückschreckte und sich weigerte, Erkenntnisse über das Feld der Gewerbestatistiken hinaus zu gewinnen. Der Künstlerverband stand im Verdacht, die Bedeutung der Künstlerinnen und Künstler überhöhen zu wollen. Also forschten wir neben der Datenerhebung für die Kulturwirtschaftsberichte nach Vorschrift auf eigene Faust, geleitet vom Erkenntnisinteresse, inwieweit die Freiberuflichkeit das Wirtschaftsgeschehen prägte. Wir vermuteten, dass die überwiegende Zahl der Akteurinnen gar nicht über einen Gewerbeschein verfügte und deswegen die Betriebszählung aus den Gewerbestatistiken völlig falsche Zahlen lieferte. Und tatsächlich, über den Zugang des DIW zu den Volkszählungsdaten kam die Wahrheit ans Licht: Während die Kulturwirtschaftsberichte 63000 Mikro- bzw. Einmannunternehmen regisitrierte spiegelt der Mikrozensus, dass von den insgesamt 280 000 Berliner Kulturwirtschaftsbetrieben 180 000 Mikro- bzw. Einmannunternehmen waren, d.h. dass fast 120 000 Freibruflerinnen ohne Gewerbeschein das Geschehen prägten.
Soweit die Zahlen von 2008/9. 2014 erschien der in die verschiedene Branchen aufdifferenzierte 4. Kreativwirtschaftsbericht, der aber immer noch nicht in der Lage war, Felder ausserhalb der Gewerbescheinrealität in Betrachtung zu nehmen. Die Zahl der registrierten „Freien Bildenden Künstlerinnen und Fotografen“ in Berlin wird mit 1750 wiedergegeben. Alleine der Berliner Künstlerverband BBK hat 2350 Mitglieder, nimmt für sich in Anspruch, daß er ca. 20% der freien Szene organisiert, schätzt also 10000 Akteurinnen als Repräsentantinnen dieser Branche in der Stadt.
Schon unfähig, eine präzise Situationsanalyse abzugeben, ist man beim Senat auch heute noch (2020) nicht in der Lage, selbständig eine den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Künstlerinnen und Künstler gerecht werdende Förderlandschaft zu gestalten. Sämtliche bestehenden Förderprogramme wurden der Politik abgetrotzt bzw. erkämpft. Die Administration selbst drückt routinemässig dagegen, indem sie nach Leibeskräften ignoriert, daß Künstlerinnen und Künstler nicht in erster Linie gewerblich, sondern kulturell, intrinsisch aktiv sind, d.h. die pekuniäre Verwertung des Werkes nicht im Vordergrund des Interesses steht. Genau das ist aber der thematische Kern, der künstlerische Arbeit von anderen Feldern unterscheidet.
Die Entwicklung der Infrastruktur geht insofern auch im Wesentlichen auf von Künstlerinnen selbst initiierte Projekte zurück, die mit Hilfe zur Selbsthilfe primär von privaten Stiftungen in die Nachhaltigkeit gebracht worden sind.
Einen Wendepunkt beschreibt die Gründung der Bürgerinitiative „StadtNeudenken“ in der sich Künstlerinnen und Politikerinnen zusammenfanden, um die Ausverkaufspolitik der Stadt Berlin, Grund und Boden betreffend, zu beenden. Das politische Ergebnis war die Formulierung der „Neuen Liegenschaftspolitik“ durch den Finanzsenator Nussbaum, deren Kern die Fusion des Vermarktungsinstruments „Liegenschaftsfonds“ mit der landeseigenen, aber privatwirtschaftlich strukturierten Immobilienholding „Berliner Immoblienmanagement GmbH“ bildet.
Sein Nachfolger Matthias Kollatz scheint die Zeichen verstanden zu haben und kaufte zum Beispiel das Grundstück „Haus der Statistik“ vom Bund und verhinderte mit einer Bundesratsinitiative, daß das 4 Hektar grosse Gewerbegebiet „Dragoneraeal“, mitten in Kreuzberg, privatisiert wurde. Der Erwerb des Grundstücks an der Karl Marx Allee 1 wurde zwar öffentlich von einer symbolischen Besetzungsaktion durch Künstlerinnen und Künstler markiert, basierte aber letztendlich auf eigenen Ideen des Senators. Immerhin werden auf insgesamt 27 000 m² in Selbsthilfe Infrastruktur für Kunst, Kultur und Soziales geschaffen.
Ein weiterer Meilenstein ist die Sicherung der „Alten Münze“ ( 8000m² Fläche) für selbige Inhalte im Landeseigentum. Ein Umdenken fand also statt. Bemerkenswert ist allerdings, daß der Senat selbst das Bauschild mit dem inhaltlichen Hinweis aufstellen liess. Am „Haus der Statistik“ war ein ähnliches Schild der Künstlerinnen und Künstler noch als Provokation empfunden wurden und das Befestigen mit einem Strafverfahren verfolgt.
F. Schöttle, Berlin 2020